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Eines dieser Gesichter – Gesichterblindheit und Autismus – Erfahrungsbericht

Was? Gesichterblindheit? Wie kann man nur blind für Gesichter sein, obwohl man eigentlich sieht? Gibt es das überhaupt? Ja!

Natürlich hatte auch ich bis vor Kurzem keine Ahnung, dass so etwas wie Gesichterblindheit überhaupt existiert. Den meisten Menschen ist das ja unbekannt. Deshalb habe ich erst sehr spät begriffen, dass meine Fähigkeit zur Gesichtserkennung nicht richtig funktioniert.
Als ich einmal äußerte, ich könne mir keine Gesichter merken, wurde ich beschwichtigt: “Das geht doch allen mal so.”

Ja, natürlich stimmt das. Sich Gesichter zu merken und diese im Wachzustand zu visualisieren, ist für die meisten Menschen sehr schwer. Jedoch wäre es für die Meisten möglich, der Polizei gegenüber das Gesicht eines Straftäters zu beschreiben oder zumindest das der dementen Mutter, die mit 80 aus dem Fenster stieg und verschwand und die man sein ganzes Leben lang kennt.

“Prosopagnosie” bezeichnet die Unfähigkeit, einen Menschen anhand seines Gesichtes wiederzuerkennen.

Schätzungsweise sind 2,5% der Bevölkerung von Gesichterblindheit betroffen. Den meisten ist ihr Problem nicht bewusst. Statt die Betroffenen darauf anzusprechen, gehen nämlich die meisten Leute davon aus, dass die Betroffenen nicht grüßen wollten wenn sie im Supermarkt ohne ein Erkennungszeichen an ihnen vorbei laufen.

“Warum sollte ich sie zuerst ansprechen, wenn sie mich nicht grüßt? Nicht mal ein Lächeln hat sie gezeigt! Total unhöflich. Da gehe ich weiter.”

Deshalb plädiere ich für einen offenen Umgang mit dem Thema. Wenn jemand, den du kennst, dich häufig übersieht, einfach an dir vorbei läuft oder dich zum Beispiel in der Stadt trifft und dann nicht weiß, wer du bist: sei nicht sauer.
Im Extremfall kann es nämlich sein, dass die Betroffenen dich nicht einmal erkennen, wenn du sie ansprichst. Das bedeutet dann nicht, dass sie dich für so unwichtig halten, dass sie dich vergessen haben. Sag ihnen einfach deinen Namen und woher sie dich kennen. Für Gesichtsblinde kann es sehr schwer sein, einen Menschen ohne Kontext wiederzuerkennen (d.h. eine Verabredung oder eine bestimmte Umgebung, wie ein Vereinstreffen oder die Ausbildungsstätte).

Erste Auffälligkeiten

Sobald ich groß genug war, einen Stift zu halten, fing ich an, zu zeichnen. Aus Krakeleien wurden Pferde, und schließlich begann ich, auch andere Dinge und Lebewesen zu zeichnen. Als ich dann versuchte, Gesichter zu malen, stand ich vor einem großen Problem: jedes dieser Gesichter sah gleich aus. Natürlich gab es Unterschiede zwischen jeder einzelnen Zeichnung, aber nie so, dass ich ein gutes Ergebnis erzielen konnte. Ich wollte natürlich auch mal nur Frauen oder nur Männer zeichnen, mal lachende und mal weinende Gesichter, doch es gelang mir nicht. Ich zeichnete immer “eines dieser Gesichter” mit großer Nase, geschwungenen Lippen und mandelförmigen Augen.

Deshalb ist heute jedes meiner Bilder, auf dem ein Gesicht zu sehen ist, ein Training des Gesichterlesens. Es ist ein Versuch, mein Gehirn zu trainieren.
Die Bilder in meiner Galerie mögen sich optisch unterscheiden – doch sie haben einige Gemeinsamkeiten:

  • Die meisten von ihnen wurden mit Hilfe eines Fotos gemalt
  • Ihre Gesichtszüge sind schwer einzuordnen – männlich oder weiblich?
  • Details ähneln sich und nur die Haltung und die Farben sind verschieden

Meine autistische Gesichterblindheit

Als Kind blieb ich immer sehr nahe bei meinen Eltern. Denn wenn ich sie aus den Augen verlor, kam es vor, dass ich fremden Leuten, die ähnlich gekleidet waren, ein Stück hinterherlief oder sie sogar ansprach. Wenn ich meinen Fehler dann bemerkte, war der Schock natürlich groß – ich hatte ja nicht nur meine Eltern verloren, sondern es war auch noch mega peinlich! Meine Eltern hatten mir natürlich eingeschärft, nicht mit Fremden mitzugehen (vor denen ich sowieso Angst hatte). Aber was, wenn ich nicht in der Lage war, das zu tun? Was, wenn ich aus Versehen einfach mitgehen und nie wieder zurückfinden würde?
Das führte dazu, dass ich anderen Personen gegenüber solche Fehler auch nicht erzählte, sondern einfach nur froh war, wenn ich wieder bei ihnen war. Und dann traute ich mich noch weniger nach draußen.

Schulzeit

Als ich älter wurde und auf eine neue Schule kam, fand ich meine Klassenkameraden und Lehrer kaum wieder. Mühsam musste ich mir eine Person nach der anderen einprägen und brauchte ewig, bis ich die Namen zuordnen konnte. Auf den ersten Blick sahen alle ähnlich aus.

Illustration “Gesichterblindheit in der Schule”

Ich benötigte ab dem Betreten eines Klassenzimmers über dreißig Sekunden Zeit, um festzustellen, ob ich in der richtigen Klasse war. Ich stand in der Tür – und sah mich um, lief rot an, starrte verzweifelt auf die anderen Kinder und hoffte, dass jemand sich irgendwie zu erkennen gab.
Wenn ich innerhalb dieser (peinlichen) Sekunden niemanden fand, den ich zu erkennen glaubte, wusste ich, ich war im falschen Zimmer – aber am Anfang passierte es mir trotzdem ein Mal, dass mich ein Mädchen ansprach und mich fragte, was ich in dem falschen Zimmer machte.
Verdammt, war das peinlich!

Zum Glück durften wir oft unsere Sachen im Klassenraum lassen, sodass ich nach meinem Platz Ausschau halten konnte. Mir besondere Gegenstände zu merken, war kein Problem. Das Klassenzimmer zu finden war übrigens schwer, weil sich die Architekten besondere Mühe gegeben hatten, das Schulhaus so gleichmäßig und nüchtern wie möglich aussehen zu lassen. ALLE Türen und Wände und Treppen sahen gleich aus. Man musste den nächsten Treppenaufgang finden und dann die Türen abzählen, wenn man vergessen hatte, wo man sich befand. Es war anfangs eine echte Herausforderung, sich zu merken, wo zum Beispiel der Kunst-Raum war. Nichts deutete von außen darauf hin, um welche Art Zimmer es sich handelte – außer einer nichtssagenden Raumnummer, die ich mir ebenfalls schlecht merken konnte. Erst nach einem halben Jahr fand ich mich im Schulhaus zurecht.
Der Ausblick aus dem Fenster war leichter zu merken.

Leider empfand ich diese Orientierungslosigkeit als normal und hinterfragte sie lange Zeit nicht. Es war einfach nur unangenehm und peinlich.
Als ich bei einem Familientreffen meinen Onkel mit einem Fremden verwechselte, der ihm ähnlich sah, wurde mir klar, dass ich ein echtes Problem habe.

Hinweise durch Träume

Nebenbei beschäftigte ich mich mit luziden Träumen und arbeitete an meiner Traumerinnerung. Die Länge und Deutlichkeit der Träume kann nämlich durch regelmäßiges Traumtagebuch schreiben verbessert werden. Und deshalb machte ich eine gruselige Entdeckung: die Menschen in meinen Träumen hatten alle keine Gesichter. Anstelle des Gesichtes war einfach nur eine verschwommene Fläche zu sehen.

Meine Schwester sprach mich kurz darauf auf das Thema Gesichterblindheit an und da machte plötzlich alles Sinn. Aber – warum habe ich damit ein Problem?

Nach einiger Recherche, einigen interessanten Träumen und meiner Autismusdiagnose weiß ich jetzt, dass mein Problem dadurch bedingt ist, dass ich Menschen nicht sehr lange in ihre Gesichter schaue. Mein Gehirn hat wahrscheinlich nie gelernt, Gesichter vor dem inneren Auge zu reproduzieren.
Nun muss ich mir eben mehr Mühe geben, die Menschen an anderen Merkmalen zu erkennen. Tatsächlich ist neben der Frisur, der Kleidung, der Größe und Besonderheiten wie Brillen oder Narben die Stimme das Wichtigste für mich. Wenn ich angesprochen werde, kann ich die Menschen leichter zuordnen.

Ist autistische Prosopagnosie heilbar?

Dank der Träume bin ich noch auf eine interessante Idee gekommen. Was, wenn man sein Gehirn trainieren kann, sich an die Gesichter wieder zu erinnern?
Durch das Malen habe ich das bereits versucht und denke, dass es auch geholfen hat, da ich jetzt etwas flexibler darin bin, menschliche Ausdrücke zu zeichnen.
Außerdem gibt es einen deutlichen Hinweis, dass das Gehirn noch dazulernen kann:
Je mehr ich mich mit dem Thema des Träumens und der Gesichterblindheit beschäftigte und mit interessierten Menschen darüber sprach, desto seltsamer wurden meine Träume.

Ich bin in einem großen Haus zu Besuch bei einer fremden Frau mit langen, blonden Haaren. Sie spricht mit mir und ich sehe, dass sie kein Gesicht hat. Das ist völlig normal.

Plötzlich reicht die Frau mir ein Foto. Darauf ist ein junger Mann mit kurzen, schwarzen Haaren zu sehen – und er hat ein Gesicht.
“Aber die Menschen in meinen Träumen haben niemals Gesichter!”, sage ich zu der Frau und wache auf.

Traum, wenige Tage nach meiner Erkenntnis

Nach diesem Traum folgten noch weitere Träume, in denen die Menschen Gesichter hatten – allerdings nicht ihre realen Gesichter. Beispielsweise träumte ich davon, einen Kumpel zu suchen und als ich ihn fand, hatte er das falsche Gesicht.
Seitdem hat sich meine Fähigkeit, Menschen am Gesicht zu erkennen, leider noch nicht merkbar verbessert und ich bin immer noch nicht in der Lage, mir das Gesicht meiner eigenen Mutter in mein Gedächtnis zu rufen. Aber die Träume werden immer deutlicher und ich bin kurz nach dem Aufwachen noch in der Lage, mich an die geträumten Gesichter zu erinnern! Das ist ein deutlicher Fortschritt, da ich Gesichter sonst innerhalb weniger Sekunden vergesse.

Falls du, lieber Lesender, auch an Gesichterblindheit leidest, würde es mich sehr interessieren, ob du meine Erfahrungen mit Träumen bestätigen kannst! Schreibe gerne einen Kommentar.

Es ist leider unwahrscheinlich, dass andere Formen der Gesichterblindheit heilbar sind – doch es ist nicht unmöglich. In Studien wurde schon oft gezeigt, dass verletzte Gehirnareale durch Training von anderen Teilen des Gehirns ersetzt werden können. Was hier fehlt, ist weiterführende Forschung und eine Trainingsmethode.

Andere Formen der Prosopagnosie

Semantisch gesehen ist der Ausdruck “Gesichtsblindheit” Quatsch. Menschen mit Gesichtsblindheit sehen Gesichter natürlich und erkennen diese im Normalfall auch als Gesichter. Das große Problem dabei ist nur, dieses Gesicht dann wiederzuerkennen, also sich an das Muster zu erinnern, das das Gesicht als solches ausmacht. Geschlecht, Alter und Gefühle können meistens noch abgelesen werden.
Der Begriff “Agnosie” bezeichnet eine Störung des Erkennens und ist somit viel treffender.

Im irdischen Jahre 1947 wurde das Phänomen das erste Mal durch den deutschen Neurologen Joachim Bodamer beschrieben. Er hatte drei Patienten, die nach einer Gehirnverletzung außer Stande waren, Pflegepersonal und Verwandte wiederzuerkennen. Dies ist die erworbene Form der Gesichterblindheit.

Dann gibt es noch eine erbliche Form, die etwa 2,5% der Bevölkerung betrifft. Innerhalb der betroffenen Familien ist das Problem erblich und Kinder haben eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, Prosopagnosie zu erben.

Bei Autismus scheiden sich die Geister – ist das nun eine angeborene Gesichterblindheit (also eine unheilbare Komorbidität) oder lediglich darauf zurückzuführen, dass Autisten den Menschen weniger in ihre Gesichter sehen und deshalb die Fähigkeit erst gar nicht erlernen?

Wie dem auch sei – hier wird noch geforscht!

Ein kurzer Überblick zur Abgrenzung von anderen Störungen

  • “Seelenblindheit” bezeichnet die Unfähigkeit, Gesichter von Gegenständen zu unterscheiden.
  • Prosopagnosie gibt es auch bei Tiergesichtern – die “Zooprosopagnosie”
  • Wichtige Stützen beim Wiedererkennen sind:
    • Stimme
    • Gangbild
    • Haarfarbe und Frisur
    • Der Kontext (z.B. eine Verabredung)
    • sonstige äußerliche Besonderheiten wie Narben, Brille etc.
Mann ohne Gesicht - Darstellung für Gesichterblindheit. Ist Prosopagnosie heilbar
Bild von Michell Trommler von Pixabay

Andere Menschen nehmen Betroffene oft als unsozial, unhöflich oder desinteressiert wahr, weil diese nicht reagieren. Ein offener Umgang mit dem Problem kann helfen, um das Verständnis des Umfeldes zu erhöhen.

Hier findest du einen kurzen Test, ob du an Prosopagnosie leiden könntest: https://www.troublewithfaces.org/test-yourself-1


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